von Kerstin Schlichting
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14. Juni 2020
Irgendwas läuft schief gerade. Die Welt dreht sich immer schneller. „Schneller, höher, weiter“ ist seit dem Wirtschaftsaufschwung der Nachkriegszeit, also seit 75 Jahren, die Maxime der Wirtschaft. Seit es das Internet gibt, schreitet die Digitalisierung voran, für manchen unheimlich, für andere eine Offenbarung. Dadurch ist auch das Arbeitsleben noch schneller geworden, die Arbeitsverdichtung höher. Ich bemängle schon seit Jahren, dass dabei die Menschlichkeit auf der Strecke bleibt und hab auch versucht, es zu kommunizieren, aber bei den betreffenden Stellen/Personen kommt das nicht an – im doppelten Sinne. Deshalb habe ich jetzt nach 20 Jahren meinen Job gekündigt. Je mehr ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, woran es liegt. Die Kollegen, mit denen ich darüber rede, wissen sofort, was ich meine, aber die Leitungen nicht. Sie verstehen es nicht, weil sie anders ticken. Dies ist ein Versuch der Analyse. Man soll ja nicht schlecht über seinen Arbeitgeber reden, aber ich weiß, dass auch andere Arbeitgeber so ticken, also betrifft diese Analyse nicht nur meinen Arbeitgeber, sondern auch viele andere. Einweisung statt Einarbeitung Unsere Leitungen sind auf Wirtschaftlichkeit ausgerichtet. Sie gucken sich Zahlen an: Auswertungen, Statistiken und Kosten. Dabei wird auf Mitarbeiter, das Personal, ebenfalls nur aus Zahlensicht geschaut – Personalkosten sind immer hoch – in allen Branchen. Das verleitet Leitungen dazu, diese Kosten zu reduzieren. Mit fatalen Folgen. Mein Noch-Arbeitgeber, eine kirchliche Institution im öffentlichen Dienst, stellt schon seit Jahren kaum noch dem Beruf entsprechend qualifizierte Kräfte mehr an, d.h. in unserem Fall der Verwaltung Verwaltungsfachangestellte oder Verwaltungsfachwirte. Fachkräftemangel? Glaub ich nicht in dem Bereich Grundsätzlich ist es kein Problem, Quereinsteiger zu beschäftigen, die weder die Institution kennen noch das fachliche Wissen haben, wenn diese vernünftig eingearbeitet würden. Das ist leider nicht der Fall. Eine vernünftige Einarbeitung würde bedeuten, dass ein Mitarbeiter/in dafür abgestellt wird, mit dem/der Neuen zusammen über einen gewissen Zeitraum alles gemeinsam zu erledigen, damit der/die Neue die Vorgänge und Abläufe kennenlernt und dabei sicher wird. Oder eine Zeitlang Mitlaufen wie bei einem Praktikum. Das würde Sinn machen, wenn der/die alte Mitarbeiter/in noch da ist und damit auch eine vernünftige eins-zu-eins-Übergabe macht. Tatsächlich läuft es aber so, dass die freigewordene Stelle mindestens ein Vierteljahr freigehalten wird (dazu gibt es einen Beschluss), um dann von dem/der Kollegen/Kollegin, der/die schon drei Monate die Vertretung gemacht hat und dabei schon völlig überlastet ist, eine – nennen wir es mal – „Einweisung“ bekommt: eine Erklärung, wie es zu laufen hat, und dann selbst Versuchen soll mit dem Hinweis: „Du kannst mich jederzeit ansprechen, wenn du etwas nicht weißt.“ Klingt zunächst auch gut. Der/die Neue wird „ins kalte Wasser geschmissen“ und muss schwimmen lernen. Als Kollegin, die das beobachtet, habe ich immer den Eindruck, dass das auch funktioniert und ab und zu auch Fragen kommen. Nur beim näheren Hinsehen zwecks Vertretung fällt auf, dass einige Abläufe komplett fehlen – weil sie nicht verinnerlicht wurden und die Routine fehlt. Außerdem kann der/die Neue den Arbeitsplatz noch nicht komplett ausfüllen, die anfallende Arbeit ist schlichtweg zu viel für ihn/sie, weil er/sie noch langsamer ist, mehr nachfragen und überlegen muss. Als Kollegin, die anleitet, habe ich das Gefühl, dass dies auf mich zurück fällt und mache mir Vorwürfe, dass ich es nicht besser erklärt habe. Aber der geschilderte Umstand lässt keine Zeit für ausgiebige „Einarbeitung“ und mir geht es nicht alleine so – „Einweisung“ ist die neue „Einarbeitung“ – anders ist es heutzutage nicht mehr möglich. Alles andere wäre Luxus. Die Fluktuation wird auch bei uns höher, also bleiben immer mehr Stellen zeitweise unbesetzt. Das führt dazu, dass sich die Arbeit noch mehr verdichtet, weniger Personen mehr Arbeit erledigen. Der Arbeitgeber findet es klasse, weil es ja anscheinend trotzdem „läuft“, aber aus Sicht des Teams läuft es gar nicht. Das meiste wird oberflächlich abgehandelt, vieles einfach „vergessen“, unter den Tisch fallen gelassen. So lange es keiner merkt, ist es auch egal, aber die Beschwerden häufen sich. Die Leitungen hinterfragen dann aber leider nicht ihr aufgebautes System, sondern leiten die Beschwerde direkt an den betreffenden Mitarbeiter weiter, der dann dafür abgemahnt wird. Auch diese Vorgänge häufen sich. Auch Mitarbeiter, die noch nicht richtig eingearbeitet sind, werden abgemahnt, dabei können sie gar nichts dafür. Was glauben die Leitungen eigentlich, woran es liegt? Und was bezweckt eine Abmahnung, wenn sie nicht den Zweck der Kündigung erfüllt? Glauben Leitungen, sie können die Mitarbeiter zwecks arbeitsrechtlicher Maßnahmen „erziehen“, obwohl das System krank ist? Funktionieren wie eine Maschine Betrachtet man eine Einrichtung nur anhand von Zahlen, dann gerät schnell der Mensch als Individuum in den Hintergrund. Ich fühle mich seit Jahren an meinem Arbeitsplatz nicht mehr wohl, fühle mich nicht gesehen und nicht wert geschätzt. Und damit repräsentiere ich die Mehrheit meiner Kollegen, wie eine Erhebung der Berufsgenossenschaft in unserer Verwaltung gezeigt hat. Der zusätzliche Druck der Arbeitsverdichtung, neuen Abläufen, zusätzlichen Statistiken, die geführt werden sollen, macht auf mich den Eindruck, als wäre ich eine Maschine. Es wird unmenschliches von uns Arbeitnehmern verlangt. Wir müssen nur abarbeiten und dabei noch in immer kürzeren Intervallen. Ein Roboter wird trainiert auf Effektivität. Die Erhebung der Berufsgenossenschaft ist der Leitung präsentiert worden, geändert hat dies nichts. Unsere Leitungen haben noch nicht verstanden, dass wir keine Roboter sind. Schaut man sich die Mitarbeiter individuell an, dann sieht man, dass jeder andere Fähigkeiten hat. Der eine kann gut mit der EDV umgehen und klickt schnell durch die Programme, ein anderer hat eine Affinität zu Zahlen und sieht auf den ersten Blick, was an einer Berechnung falsch ist, während andere rechnen und grübeln und nicht auf den Grund des Fehlers kommen. Wieder andere können gut formulieren, wenn es darum geht, einen komplexen Vorgang zu erklären. Viele meiner neuen Kolleginnen haben mir gesagt, hätten sie gewußt, dass man in unserem Bereich so viel mit Zahlen zu tun hat, hätten sie dort nicht angefangen. So ist der Mensch eben. Man kann nicht erwarten, dass jeder ein Mathegenie ist. Leider erfüllen - aus meiner Sicht – auch die Leitungen nicht unbedingt alle ihre Aufgaben, die von einer Leitung zu erwarten wären. Das wäre dann zum Beispiel, dass die besonderen Eigenschaften der Mitarbeiter gesehen und genutzt würden und schon bei Einstellung geguckt wird, ob der Mitarbeiter in dem Bereich richtig ist. Wie viele Leute habe ich schon kommen und gehen sehen! Ehemalige Auszubildende, die sich auf den neuen Arbeitsplätzen nicht wohl gefühlt haben und „verbrannt“ wurden. Viele haben vor meinen Augen geweint. Es ist so traurig, das mit anzusehen. Menschen wie Du und ich – mit Stärken und Schwächen –die auf ihre Schwächen reduziert werden… Obwohl mich schon sehr lange einiges gestört hat, hat es sich in der letzten Zeit für mich so zugespitzt, dass ich es nicht mehr hinnehmen kann. Zuletzt wurden auch sogenannte Softskill-Seminare gestrichen, die meines Erachtens für die Persönlichkeitsentwicklung der Mitarbeiter sehr wichtig sind. In meinem Fall war es ein Seminar zum Stressabbau. Da ich seit einiger Zeit mit Bluthochdruck zu tun habe und mich sehr gestresst fühlte, war dieses Seminar wichtig für mich und sollte auch im Sinne der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers für diesen wichtig sein. Aber trotz mehrfacher Nachfrage und Einschalten der Mitarbeitervertretung ist mir dies Seminar verweigert worden mit dem Hinweis, sparen zu müssen und dass man auch bei mir keine Ausnahme machen könnte. Der Arbeitgeber will neue Grundsätze aufstellen, welche Seminar genehmigt werden und welche nicht. Ich glaube, das war es, was mir letztendlich die Augen geöffnet und mir klar gemacht hat, dass der Mensch als Individuum einfach nicht gesehen wird. Die Corona-Pandemie zeigt uns gerade auf, wie wichtig Solidarität, Zusammenhalt und Nähe sind und Pflegeberufe werden als „systemrelevant“ bezeichnet. Der Mensch rückt wieder mehr in den Vordergrund, vermeintlich. Ja, auf einmal wird erkannt, dass Berufe, die direkt mit Menschen zu tun haben, unterbezahlt sind. Von den „helfenden“ Berufen wie Polizist, Feuerwehrmann, Krankenschwester oder Arzt träumen kleinen Kinder, weil sie zu diesen Berufen aufschauen, den „Helden“ in dem Beruf sehen. Fragt man aber Schulabgänger nach ihrer Berufswahl, dann kommt häufig „Banker“ oder „Immobilienfachwirt“ dabei raus. Berufe, in denen man viel Geld verdienen kann. Unser Fokus liegt immer noch auf dem Geld, damit es uns gut geht und wir uns einen hohen Lebensstandard führen können. Eigennutz statt Solidarität, Geld statt Menschlichkeit. Ich sehe die Menschlichkeit nicht nur in meinem Arbeitsumfeld schwinden. Auch im Alltag begegnet man vielen Menschen mit „Ellenbogen“. Das fängt schon in Schulen und Kitas an und kennt wohl jeder: Eltern, die sich über Erzieher, Betreuer und Lehrer beschweren oder über andere Kinder, weil ihr Kind vermeintlich benachteiligt worden ist. Dabei muss eine vermeintliche Benachteiligung gar nicht der echte Grund sein – es reicht vielleicht schon, wenn man nachhakt und sich beschwert, damit das Kind eine bessere Note bekommt. In meinem Elternhaus gab es das noch nicht, aber schon vereinzeln unter den Mitschülern. Ich hab es eher als ungerecht empfunden, wenn andere Eltern eine bessere Note bei meinem Mitschüler „rausgeschlagen“ haben und ich mich mit meiner schlechten Note abgefunden habe. Aber meine Eltern sahen gar nicht die Veranlassung, die Bewertung des Lehrers zu hinterfragen und ich auch nicht. So bin ich dann auch erzogen worden. Die Arbeitswelt ist nicht demokratisch Dabei habe ich ein starkes Unrechtsbewußtsein. Unrecht ärgert mich sehr. Im Arbeitsalltag kommt es aber nicht gut an, wenn man Kritik übt, solange man nicht in der Mitarbeitervertretung oder in einer Leitungsposition ist. Ich habe immer versucht, mich als Mitarbeiterin für andere Mitarbeiter (fürs Team, also auch für mich selbst) einzusetzen und bin ganz oft gegen Wände gelaufen. Man kann eben nur was ändern, wenn man in einer gleichwertigen oder überlegenen Position ist. Die Erfahrung habe ich gemacht und das stimmt mich traurig. Roboter haben halt keine eigene Stimme. Dabei bin ich während meiner Schulzeit auf dem Gymnasium zu Kritik erzogen worden. Wir haben diskutiert über Für und Wider und sollten so unsere eigene Meinung ausbilden. Mir hat damals keiner gesagt, dass ich im Berufsleben alles hinnehmen soll und bereits durch mein Geschlecht Nachteile erfahren werde. Als Schülerin war das für mich unvorstellbar. Ich war genauso viel wert wie meine männlichen Mitschüler und hatte die gleichen Qualifizierungschancen. Dass das Arbeitsleben in der Hinsicht etwas anders tickt und Frauen sich umso mehr ins Zeug legen müssen, um eine gewisse Position zu erreichen, habe ich erst im Laufe der Zeit erfahren müssen. Leider ist das immer noch so, auch wenn im Grundgesetz die Gleichheit der Geschlechter verankert ist. Ich denke auch nach wie vor, dass wir nur eine weibliche Kanzlerin haben, weil Angela Merkel viel Männlichkeit verkörpert. Frauen, die sich weiblich kleiden und verhalten, sind auch in den Augen vieler Männer mehr Lustobjekt als gleichwertiger Mitbürger. Die „Me-too“-Debatte hat das nochmal ganz deutlich gezeigt, obwohl wir doch so stolz auf unsere schwer errungene Gleichstellung waren. Ändert sich das System oder ändern wir uns Ich frage mich, ob die Corona-Pandemie daran etwas ändern wird. Es hat sich viel Solidarität unter den Menschen gezeigt, Nachbarn helfen Nachbarn und viel Geld wird gespendet für die, die es gerade besonders schwer haben. Trotzdem gibt es auch noch das andere Lager, die Pandemie-Leugner, Verschwörungstheoretiker oder die Hamsterkäufer, die sich selbst immer noch am nächsten sind. Die Gesellschaft wird wohl auch nach der Pandemie beide Lager beherbergen. Wir werden es nicht schaffen, alle auf eine Seite zu schlagen und das ist wohl auch ein Teil der Menschlichkeit. Jeder hat seine Gründe für sein Verhalten und es ist am besten für uns alle, es so zu akzeptieren, dass jeder Mensch anders ist und wir nicht die Welt retten können. Trotzdem können wir die Welt ein bisschen besser machen. Indem wir andere Wege aufzeigen und als Vorbild agieren. Für meinen Job habe ich es jetzt aufgegeben und möchte nicht mehr mit ansehen, wie der Karren weiter im Dreck versinkt. Ich ertrage auch das unkollegiale Verhalten von egoistischen Kollegen und Leitungen nicht mehr. Ich als hoch qualifizierte Kraft (duales Studium als Dipl. Verwaltungswirtin und 23 Jahre Berufserfahrung) werde nicht mehr gebraucht und bin ersetzbar. Meinem Arbeitgeber ist es egal, ob ich gehe und ist wahrscheinlich sogar froh, weil er Kosten und Nerven spart. Der Hamster verlässt sein Laufrad. Ich hoffe, mein Blutdruck normalisiert sich wieder, da ich mich nicht mehr jeden Tag aufreiben muss. Die von mir betreuten Mitarbeiter werden schon traurig sein, mich zu verlieren – und auch einige liebe Kollegen. Das weiß ich, weil ich von denen viele gute Rückmeldungen bekommen habe. Meine Freude an dem Job in der Personalarbeit war immer der persönliche Kontakt, ein persönliches Wort am Telefon oder der letzte Satz im Brief: „Bleiben Sie gesund!“ oder „Ich wünsche Ihnen eine schönes Osterfest!“. Unsere Schreiben werden zukünftig noch mehr standardisiert, viele Briefe werden komplett entfallen und Weihnachtsgrüße werden zu Floskeln auf der Dezember-Gehaltsabrechnung. Ich aber werde weiter die persönliche Ansprache und menschliche Kontakte suchen. Dazu gehört auch ehrenamtliche Tätigkeit, gegenseitige Hilfe und das Miteinander. Ich habe hierzu viele positive Rückmeldungen bekommen und fühle mich daher unterstützt auf diesem Weg. In diesem Sinne wünsche ich auch Dir viele Menschen um Dich herum, die Dich respektieren, lieben und unterstützen.