In der ersten Stunde unserer Ausbildung habe ich den Spitzwegerich aus verschiedenen verschlossenen Briefumschlägen als Begleitpflanze für meine Zeit bei Alchemilla ausgewählt. Ich kannte den Spitzwegerich nur als unscheinbar und störendes „Unkraut“ am Wegesrand. Das sollte nun meine Begleitpflanze sein? Bislang hatte ich nicht viel Notiz von ihm genommen.
So auch im Verlaufe der weiteren Ausbildung - bis zu einem schönen Sommertag im Juni, an dem wir eine Exkursion an den Bordesholmer Stintgraben unternommen haben. Die naturbelassene Wiese war voll mit Spitzwegerich, schöne, groß entwickelte und dominanten Pflanzen, zum Teil fünf oder sechs Pflanzen an einer Stelle versammelt. Hier konnte ich ihn nicht übersehen. Seine schmallanzettigen Blätter, die ihm den lateinischen Beinamen lanceolata gegeben haben, stehen in einer Grundrosette. Ich habe erstmals wahrgenommen wie hübsch doch die Blüten sind. Sie bilden um sich herum kleine Kränzchen von Staubgefäßen, die lang aus den Blüten heraushängen. Sie blühen von unten nach oben ab und bringen somit bis in die Spitze immer wieder neue kleine Staubgefäße hervor. Ich konnte mich dem Charme der Pflanze nicht länger entziehen. Doch hatte ich die Botschaft immer noch nicht verstanden. Ich schaute mich weiter auf der wunderschönen Wiese um und suchte die Holunderbüsche auf, um Holunderblüten zu ernten. Autsch! Beim Schneiden einer Dolde habe ich meine Fingerkuppe erwischt. So ein Mist! Natürlich hatte ich kein Pflaster dabei. Das sollte zukünftig unbedingt zu den Sammelutensilien meiner Tasche gehören, dachte ich. Ich ließ das Blut tropfen und dachte, es wird schon nicht so schlimm sein. Da sagte Kora zu mir, ich könne den Spitzwegerich in der Hand verreiben und den so gewonnenen Saft auf die Wunde träufeln. Ich war verblüfft, hatte ich den Spitzwegerich doch nur als „Hustenpflanze“ in Erinnerung. Ich fing an, Blätter zu sammeln und sie mir um den Finger zu wickeln. Die Blutung hörte bald auf, aber mein Finger war ganz grün vom Pflanzensaft. Ob das wirklich so gut ist, dachte ich, wenn der Saft in die Wunde eindringt?
Zuhause fing ich an, nachzulesen: Schon die Assyrer benutzten den Spitzwegerich im Altertum als erste Hilfe bei Schwellungen, las ich da. Als altes Hausmittel wurden die frisch geriebenen Blätter äußerlich auch bei Juckreiz, Insektenstichen und als Notpflaster eingesetzt. Er galt bereits in der klassischen Antike wie auch in der Klostermedizin als wertvolle Medizinpflanze. Hildegard von Bingen empfahl das Kraut bei Gicht, geschwollenen Drüsen, Knochenbrüchen und als Gegenmittel bei Liebeszauber.
Ich war beruhigt und erfreut zugleich. An dem Finger kündete nur noch ein Fetzen überflüssiger Haut von dem kleinen Schnitt. Jetzt kam ich an meiner Begleitpflanze nicht mehr vorbei und wollte alles über sie wissen. Warum habe ich sie mir ausgesucht – oder hat sie doch mich ausgesucht? Ich fing an zu forschen, was es mit den anderen Wirkungsweisen des Spitzwegerichs auf sich hat, warum er bei Husten wirkt und was er noch so kann.
Seine Kombination aus Schleimen, Gerbstoffen, Kieselsäure, Mineralien, Flavonoiden, Vitamin C und dem Aucubin ist in idealer Weise geeignet bei Erkältungskrankheiten. Bei Husten sowie auch Mund- und Rachenentzündungen legt sich der Schleim auf die Schleimhäute und wirkt somit reizlindernd. In diesem feuchten Milieu fangen die Gerbstoffe Krankheitskeime ab. Ihr antibiotischer Effekt besteht darin, dass sie schwerlösliche Verbindungen mit dem Eiweiß der Bakterienwände eingehen und sie abtransportieren. Das Aucubin wirkt dabei entzündungshemmend auf die betroffenen Stellen. Im Gegensatz zu anderen Pflanzensäften soll der Spitzwegerichsaft somit auch so gut wie gar nicht schimmeln. Mineralien, Vitamin C und Kieselsäure stärken den Organismus. Aufgrund des Schleims, der Bitterstoffe und Kieselsäure hilft er auch bei fiebrigen Lungen- oder Bronchialerkrankungen. Seine Wirkungsweise ist so stark, dass er auch bei Keuchhusten und Asthma hilft.
Ein Hustensaft ist schnell und einfach aus Pflanzensaft und Honig oder Zucker hergestellt. Rezepte gibt es viele. Ich habe meins aus anderen Rezepten kombiniert und abgewandelt:
50gr. frische(ca. 30 Blätter)oder 2 gehäufte Esslöffel getrocknete Spitzwegerichblätter
1 Zweig Thymian
250 gr. (flüssiger) Honig
250 ml Wasser
Die Spitzwegerichblätter klein schneiden und mit dem Wasser kurz aufkochen lassen. Thymian hinzugeben und eine Stunde ziehen lassen, danach abseihen. Den Honig zur Flüssigkeit hinzufügen und noch warm zusammen rühren bis sich der Honig aufgelöst hat.
Aber warum hat der Spitzwegerich mich gefunden? Schauen wir dabei auf seinen Standort. Manche sagen es sei kein Zufall, dass eine bestimmte Pflanze den Garten besiedelt. Sie sehen darin eine Heilpflanze, die den Bedürftigen aufsucht. Dies ist nicht abwegig, denn es gibt Pflanzen, die dem Menschen “auf Schritt und Tritt” folgen, wie z.B. den Spitzwegerich, die Wegwarte oder die Wegrauke. Bereits die Namen weisen auf den Standort hin. Aus dem mittelalterlichen Deutsch wird der „Wegerich“ auch als „Wegkönig“ übersetzt. Das Wort „Begleitpflanze“ erhält dadurch für mich gleich eine doppelte Bedeutung. Diese sogenannten „Zaunkräuter“ werden auch mit dem Fachbegriff „Ruderalflora“ bezeichnet. Dem Städter laufen praktisch die Pflanzen hinterher. Durch den Schleim, der bei Nässe entsteht, bleiben die Samen an Schuhsohlen, Autoreifen und anderen Transportmitteln kleben und folgen somit auch dem Menschen, um sich wieder neu anzusiedeln und sei es in Mauerritzen und Zwischenräumen von Betonplatten. Sie folgen damit dem Kollektiv. Also kann man hier auch Heilkräfte gegen kollektive Erkrankungen, z.B. Erkältungswellen mit Kontakt- oder Tröpfcheninfektion vermuten. Wo viele Menschen sind, sind auch viele Mikroben unterwegs. Daher verwundert es nicht, dass viele der urbanen Unkräuter beachtliche antibiotische Kräfte besitzen.
Der Wirkstoff Aucubin vermag dabei selbst antibiotikaresistente Krankenhauskeime im Wachstum zu hemmen. Experten vergleichen die Wirkung von Aucubin mit Penicillin. Ruderalpflanzen sind nicht nur gegen Trittschäden, sondern auch gegen Umweltgifte wie Autoabgase, Reifenabrieb, metallverseuchte Böden und sauren Regenresistent. Genau in dieser Anpassung ist auch ihre Signatur verborgen. Sie zeigen durch ihre Resistenz gegenüber Problemstoffen, dass sie Widerstandkräfte in sich aufgebaut haben, die möglicherweise auch dem Menschen nützlich sein könnten.
“Und du, Wegerich, Mutter der Kräuter, östlich offen, innen mächtig. Über dir quietschen Kampfwagen, über dir reiten Königinnen, über dir riefen Bräute, über dir knirschten Stiere mit den Zähnen. All dem widerstandst du und widerstehst du: so widerstehst du auch Gift und Ansteckung, unter dem Feind, der durchs Land fährt.
(altenglischer Neunkräutersegen)
Jene Pflanzen, die die menschliche Nähe suchen, waren auch die ersten Heilpflanzen der frühen Siedler. Weil sie als Heil- und Nahrungsmittel dienten, sah man in ihnen die Verkörperung wohlwollender Hausgeister. In der Paracelsusmedizin sind sie potentielle Heilpflanzen gegen so genannte Zivilisationskrankheiten wie Allergien, Hauterkrankungen, Atemwegsreizungen oder Schwermetallbelastungen.
“Keiner unter Euch, der keine Kenntnisse der Astronomie besitzt,
kann es in der Arznei zu etwas bringen” (Paracelsus I/36)
Paracelsus ordnete jeder Ursache von Krankheit einen astrologischen Hintergrund zu. Spitzwegerich ist dem Merkur und dem Organ Lunge zugeordnet, ebenso wie die Hormone, die Enzyme, die Neurotransmitter und die Haut-Schleimhaut-Grenze. Der Merkur ist außerdem verknüpft mit Bewegungsstörungen, Motalitätsstörungen des Darms, Sprachstörungen, Allergien, eitrigen Entzündungen sowie endokrinen Störungen. Im Übermaß manifestieren sie sich als Geschäftigkeit oder Stottern, im Mangel als Teilnahmslosigkeit, Asthma oder Steifheit.
Die Aufgabe der Atmungsorgane ist vor allem der Gasaustausch, also die Aufnahme von Sauerstoff und Abgabe von Kohlendioxid. Den Atmungsprozess findet man aber auch intrazellulär, im Zitronensäurezyklus und in der Atmungskette, deren Aufgabe vor allem in der Energiebildung besteht. Die genauen Zusammenhänge kennt man noch nicht lange, aber dass die Atmung etwas mit Lebensenergie zu tun hat, weiß man seit Jahrtausenden. Viele Lungenmittel, die dem Merkur und der Sonne unterstehen, zählen zu den besten Energielieferanten.
Dies ist aber nur eine Seite der Lungenfunktion, denn die Atmung versorgt uns auch mit Himmelsenergie. Schon immer gehören Atemtechniken zu den geheimen Künsten, um spirituelle Kräfte zu vermehren. Merkur ist schließlich auch die Schutzgottheit der Weisheitssuchenden! Mit jedem Einatmen nehmen wir etwas lebensspendende Himmelsenergie auf und mit jedem Ausatmen geben wir ein Stück unserer Seele dem Kosmos zurück. Über die Atmung können aber auch astrale Wesen in uns eindringen, so wird Asthma auch zu den okkulten Leiden gezählt. Als Lungenmittel zählen somit auch sogenannte “Verschreikräuter”, die Dämonen bannen oder vor Verhexungen schützen sollen. Neben dem Spitzwegerich sind solche schutzmagischen Kräuter mit Lungenwirkung Alant, Betonie, Königskerze, Ysop und Quendel.
Das ist auch für mich interessant, da ich schon lange Probleme mit trockenen Schleimhäuten und Nebenhöhlenentzündungen, aber auch mit Energiemangel, Antriebslosigkeit und Schlappheit habe. So macht mir das, was ich über den Spitzwegerich erfahren habe, Mut. Mehr Energie kann ich gebrauchen und meine Schleimhäute werden es danken. Es steht fest, dass mich meine Begleitpflanze, die sich mir spät, aber sanft aufgedrängt hat, noch weiterhin begleiten wird.
Natürlich sehe ich mittlerweile überall meinen Spitzwegerich: auf dem Parkplatz, den ich täglich benutze, am Wegesrand auf dem Nachhauseweg oder direkt an der Straße vor meiner Haustür. Es wird mir nicht schwer fallen, ihn immer wieder zu finden und ich habe viele interessante Rezepte und Anregungen gefunden.
Vielen Dank, lieber Spitzwegerich, für diese tollen Möglichkeiten, die du mir eröffnest.